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EUPHORIUM Magazine.

Independent Reviews of Jazz, Contemporary & Improvised Music written by Oliver Schwerdt.
Radikal-kritisch, poetisch. Relativ.

Gunda Gottschalk, Xu Fengxia, Akira Ando, Günter Sommer: Whispering Eurasia (NEOS)

Das als Günter Baby Sommer Percussion & Strings firmierende Ensemble vereint vier faszinierende Musikerpersönlichkeiten, welche unter dem Titel Eurasia ihre Fülle an transkontinentaler Imaginationskraft hörbar entfalten. Vier instrumentale Abenteurer spielen mit Liebe zur sanglichen Gestalt.

I
Günter Baby Sommer
Die Günter Baby Sommer im Kreis der internationalen Szene der Frei Improvisierten Musik zugewachsene Bedeutung ist ihm längst gewiss, sein Stellenwert für die Entwicklung des dem bloßen Jazz entwachsenen Schlagzeugs unbezweifelt. Neben der akademischen Würdigung seiner praktischen Kunst durch eine ihm zuerkannte Professur an der Dresdner Hochschule für Musik ist an der Universität Leipzig ein starkes musikwissenschaftliches Interesse an Sommers Schaffen zu beobachten. Damit bahnt sich eine Reflexion ihren Weg, welche in der theoretischen Erschließung des von ihm verwendeten Instrumentariums die museale Bewahrung einzigartiger Klangskulpturen in sich bergen mag. Ist bereits heute Sommer als zentraler, der Jazzgeschichte beitragender Akteur erkennbar, vergegenwärtigt er selbst seine Musikalität nach wie vor konzertant, bespielt die Bühnen in Dutzenden per anno. Unter Absehung seiner leiblichen Präsenz sind die Erweiterungen seines Instrumentariums und dessen Spielweisen besonders eindrucksvoll mit der vorliegenden Produktion dokumentiert.

Gunda Gottschalk, Xu Fengxia, Akira Ando
Ein dem Jazz entstammender und als solcher meist mit Bläsern kollaborierender Schlagzeuger findet sich im außergewöhnlichen Kontext von drei Saiteninstrumentalisten wieder. Dabei ist es für einen wie Sommer längst realisiertes Wunder, selbst Saiten in das eigene Spiel zu integrieren, oder, wie so oft die Saiteninstrumentalisten verfahren, Objekte mit einem Bogen zu streichen. Die Becken werden gestrichen, die Saiten werden gezupft und die Saiten werden gestrichen. Die Saiten werden angeschlagen. Gunda Gottschalk, Xu Fengxia, Akira Ando: was für ein triadisches Saitengespann!
Aus der Tiefe der chinesischen Tradition schöpft Xu Fengxia. Sie hat aus Shanghai aber nicht nur ihre uralten Instrumente Guzheng und Sanxian mitgebracht, sondern auch eine spezifische Aufgeschlossenheit für modernste musikalische Phänomene. Von anderer Stelle an fernöstlichen Meeren, aus dem japanischen Sapporo stammt Kontrabassist Akira Ando, der die in Europa lange Zeit für die Produktion regelmäßiger Tonfolgen verwendete Großgeige mit in den wilden 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts unter dem programmatischen Anspruch des Free Jazz aufgeflammter Energie in Bewegung setzt. Die kleine Geige wird von der Klangforscherin gespielt. Gunda Gottschalks großartig subtile, um die Vielfalt immer präzise artikulierter musikalischer Gedanken gestrickte Kantilenen öffnen ergreifend das Bewusstsein. Als Erben Peter Kowalds, des von Wuppertal aus weltweit agierenden Avantgardisten, entspannen diese Zeitgenossen mit 32 Saiten ein Global Village, in dessen schwungvolle Interaktionskultur sich Baby Sommer, ebenso präsent, meisterlich schlagend bettet.

II
Ying Ye Si – erster Gedanke
Das Tal ist geöffnet vom frühen Gleissen der Sonne. Schwirrender Hölzer Düfte sirren am Morgen. Im Hellen, die Brise berührt, sieht man das Dorf, ziehen die vom Dorf in die Weite, deren Glocken Zahl die weiten Kreise der Körner rühmt. Voller Korn sind jetzt die Felder, drüber wehen und friedlich führen die Saiten zupfender Gestalten rund. Vom weiten Dorf her rührt auch die ruhmvolle Weise. Es wischt ein Besen und erdige Wurzeln schwellen an Glocken entlang, und schwellende Becken schlagen die Pulse runder Gestalten. Von vorn machen alte Pauken kehrt. Dumpf ruhen sie, unter zarten Gesimsen.

Cubus
Wer rutscht in allen Gefilden? Wer türmt da alle Berge hoch? Wer schabt, dass Schenkel stürzen, kramt schnell im Zunder? Wer rührt da glatte Bleche? Ziert die Wucht?

Stelline
Jetzt zieren die Sterne, ach, ziehen uns hinan! Es winkt die Nacht. Sternlein zimbeln auch die Feder, die im Bauch der Trommel brummt. Kontratasten auf flachem Rücken; flache Lider tunken flache Runken. Das All wickelt, Bohnen sich, in Speck ein.

Inside – outside
Raus, raus, rein. Hoch und runter. Langsam sein. Am Graben vor dem Feld. Das Feld wird fruchtbar abgeschnitten. Arbeiter schreiten Bein an Bein. Ihr Fleisch senkt sich würzig in den Schlamm. Auch dort hockt fett der Blues am Sud, wo unterm Trocknen der Zikaden kühne Violingirlanden mit alter Saiten warmem Reis.

Snack I
Reis aus Schnee gereifter Snackgirlanden: kalter Rohrohrsnack mit zuckender Röhren Blut.

Qui Ye Luo Ting
Nun ist viel nicht mehr ganz vorhanden. Leer gefahrene Stühle greifen nur noch brüchig der dünnen Äthergeige in den Schritt. Von oben fällt plötzlich aller Himmelglitter Klitzeglitt. Vorm Pavillon spielt eine Oper!, singt die Landschaft. Ringsum singt das glissandierende Gefieder rissige Mieder gleitend glatt. Die Bahnen entschwingen ins Extrem. Da sirrt es spürbar!, federt. Beckenklirr auf vollem Trommelbauch. Der fürchterliche Trommelbauch weckt musikalisch schnarchende Gestalten. Aus schnarchendem Gebrumm und brummendem Gereibe quellen knistervolle Listen, zerren Feste für Sekunden Tanzbeine lodernd hoch! Vorm Pavillon lodert eine Oper.

Snack II
Register aus Metallkanister schlägeln der Violine rührig King: Snackrekorder Kratzkürinde Bing.

Netzbälle
Membranenkissen federn von ganz rechts, hell, die Schlägel knallen überall die Dinge. Direktes Springen, mit dumpfen Wirbeln angerührt. Kontrapunktuelles Schweben. Was dumpf gesprungen, federt nach. Da springen auch die Bleche. Die Melodien streben biegend sich entgegen. Sprudelnde Saiten gelangen als Brunnen an den Quell aus Licht. Die Sprudel dämpfen auch die Schläge. Hurtig gedämpfte Schläge, Dämpfe um das Licht. Am Horizont dampft jetzt das Schweben einer Feder.

Snack III
Geigenlied bekannterer Girlanden: Snack aus Snare schnarrender Pedale, Licht sprudelnder Brause.

S
ilenda
Dünne Saiten sitzen still. Stille schwenkt im Gong. Beschämte Hölzer klopfen aus edlen Becken edle Tropfen. Glocken stanzen in die alte Zeit. Betörend schwört die Runde alten Geist. Leise riecht das Knistern eines greisen Windes.

Snack IV
Reitbereiter Gleitsnack in schnellen Tremoli: Ritt Girlande gleitender Quadrupeltritt.

Warabe Asobi
Abrupt rupfen unterm dunklen Teil des Feldes kleine Tiere in das Dorf. Ihre kleinen Hufe, ihrer schnellen Beine Schritt. Winzige Kreisel, Kratzer, kecker Tritt. Glattes Schleichen an der dritten Wurzel.

Rumba Saxonia
Tanzgelage verrenkt in sächsisch schwenkender Art die Glieder. Über Freuden vor Kakteen betreiben im Singsang alter Ziegenlieder auf Stepptischen der Ostteufel Helden ihr feierliches Gemach. Anwesender Ziegen Milch schwimmt in asiatischem Gewürz sich ein. Rasante Rasselzunder, Röcke ohne Reif in rohem Swing. Die Trommel spürt die Wucht besonders.

Ying Ye Si – zweiter Gedanke
Zurück im Tal schwirrender Düfte zieht das Dorf lebendige Gestalten unter ihrer Glocken warmem Klang. Von fern spielt eine Oper Sprudel in der flachen Lider Herzen. Spät senkt sich das Gleissen ins Tal, vom Mondlicht herab auf die Gesimse.

Mit Eurasia erzählt Günter Baby Sommer Percussion & Strings zeitgenössisch musizierend die Reise weltgewandter Instrumentalisten. Das global vibrierende Melodien, Harmonien und Rhythmen produzierende Ensemble vereint mit seinen Künsten multiperspektivischer Saitenspannungen und klangvoller Schlaggetriebe hörbares Kulturgut anderer Länder.

 

 

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