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EUPHORIUM
Magazine.
Independent
Reviews of Jazz, Contemporary & Improvised Music written
by Oliver Schwerdt.
Radikal-kritisch, poetisch. Relativ.
sinebag
(Ein Rucksack voller Sinuswellen. Wurf neuer Musikästhetik
zwischen Gartenschau und Mikroelektronik aus Leipzig)
In
elegantem Rosa fällt das Licht und streut auf einen jungen
Mann. Dieser sitzt an einem mit beinahe unsagbaren Utensilien
belegten Tisch und gibt ein hochkonzentriertes Spiel.
Sinebag, unter bürgerlichem Namen Alexander Schubert in Leipzig lebend,
produziert eine Musik wirklich pitturesken Hörens. Ein verweisungsträchtiges
Netz aus Klang-, Objekt- und Bildkunst sowie Poesie gilt es zu entdecken. Mittels
kleiner Kontaktmikrophone äußert sich etwa eine Luftverpackungsfolie über
Laptop-generiertem Reverb, eine kleine Plastikdose mit Nägeln über
Distorsion und eine pappige Schachtel Reis über ein Delay. Den Klang eines
braunen Backgammon-Spiels schöpft dieser eigentümliche Musiker, Steinchen
und Würfel auf verschiedenen Böden werfend, aus. Agrar und Anbau einer
Musik auf dem Spielbrett. Als sinebag plötzlich auf einem Kissen oder einer
Matratze herumhüpft, werden diese physischen Impulse durch Gesangsmikrophone
zu einem digital programmierten Tonhöhenmodulator weitergereicht. Die Handhabung
der Effekte erfolgt mit einem Regler am Keyboard. Das Ganze ist sorgfältig
inszeniert und eingeleuchtet. So gelingt es sinebag die magische Bereitschaft
der Dinge zu offenbaren, zu wirbeln, sie zu ekstatuieren. Ein bisschen Freejazz
für das 21. Jahrhundert. Oder wie Steve Beresford Gegenstände berühren.
Der Welt entnimmt sinebag so eine ganz eigene Ausstattung. Wird diese Musik als
postmoderner Entwurf diskutiert, fällt auf, dass der Autor in der Massenkultur
des Pop nicht etwa verschwunden, sondern bloß digital verrückt ist.
Was live spielerisch passiert, ist zum Einen Ernte täglicher Kompositionsarbeit,
hinsichtlich struktureller Gestaltung und der Erforschung von Klängen, zum
Andern Grund gelegt durch den schieren Möglichkeitsraum digitaler Kultur.
Was im 20.Jahrhundert die Tendenzen der Neuen, die Innovationen der improvisierten
und das Revolutionäre der elektronischen Musik fuhr, gerinnt hier zu einem
in dieser Stärke unerwarteten individuellen Wurf. Im autodidaktischen Umgang
mit Musik ist sinebag ein Konzept gelungen, welches das Potential besitzt zur
Neudefinition des Verhältnisses von Natürlichem und Menschengemachtem,
welches sich als Aktualisierung sinnlichen Bewusstseins und zugleich als Aktualisierung
künstlerischer Erkenntnis fassen lässt. Leichte organisch-naturale
Sphären, Wald und leise Tritte versammeln sich in einem Raum mit dem Geräusch
derzeitiger Kommunikationsmittel. Am intensivsten ist dies sinebag bisher bei
Milchwolken in Teein gelungen. Die fünfzigminütige Musik ist 2003 von
dem Berliner Label Pulsmusik verlegt. Als Pendel zwischen organischen und elektronischen
Klängen stiftet das Album Verwandtschaft zwischen Vögel, Gitarre, elektrischer
Orgel und digital synthetisierten Klängen. Sinebag stiftet einen Raum für
gegenwärtige Erfahrung. Naturgeräusche landen als 0en und 1en im Laptop.
Sie werden digital vermittelt und im Spannungsfeld von selbst gefertigten Instrumenten
wahrnehmbar gemacht und kreativ hinterfragt. Die Virtuosität instrumentalen
Spiels scheint an einen zarten, fragilen Endpunkt angelangt. Eine Reduktion,
deren Aktualität als musikalische Strategie unlängst auch Peter Niklas
Wilson auffiel. Wesentliche Kontur bekommen die Kompositionen, wenn sie sich
zu Text und Bild verhalten. Neben konventionellen Bildtypen, produziert sinebag
sowohl bildnerische Arbeiten, die experimentell in den öffentlichen Raum
eindringen, als auch speziellere Versuche zu bildnerisch-klanglichen Intermedialität.
Zarte Lyrik, oft schwach mit Blei oder Pastell auf den Grund gelegt, kommentiert
die Verwendung der Instrumente und die subtile Wahrnehmung resp. Konstruktion
der Klänge. Dabei überschwimmen Worte in klangliche Texturen, umspielen
Wörter Noten.
Verlässt sinebag sein digital-technisiertes, aber ebenso von Naturfarben
und –reliquien durchzogenes Experimentallabor, so begibt er sich wahrscheinlich
als Alexander Schubert an die Universität Leipzig und pflegt wissenschaftlichen
Umgang mit dem Doppelstrom, der allgegenwärtig sein künstlerisches
Schaffen durchdringt, schaut biologisches und informationstechnisches System
zusammen.
Labelchef Patrick Amelung arbeitet selbst als Trikband einige interessante elektronische
Kompositionen, die im MP3-EP-Format im Internet erscheinen. Auf die Wurzeln des
Konzeptes Pulsmusik hin gefragt, verweist Amelung, studierter Mediendesigner,
gerne auf Morton Feldman oder Ornette Coleman, auf ihre revolutionäre Befreiung
des Rhythmus. Dabei mag man Feldmans Verwendung repetetiver Strukturen weniger
als Gegenpol zur gegenwärtigen, auf reproduktive Organisation basierende
populäre Musikkultur betrachten, sondern eher als deren Vorreiter. Pulsmusik
von Schubert aber ist so eigenständig, dass sie sich auch mit der schweizerischen
Saxophon-Avantgardefigur Urs Leimgruber auf der Bühne treffen kann.
(Erschienen
in: Neue Musikzeitung, Oktober 2004)
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